Alles hat seine Zeit

Im Wald hatte der Herbst Einzug gehalten. Mitgebracht hatte er alles, was zu dieser Jahreszeit gehörte: ein böiger kalter Wind pfiff um die Stämme, als wollte er die Standhaftigkeit der Bäume prüfen und grob riss er die bunt gefärbten Blätter von den Zweigen, wirbelte sie in einem wilden Tanz umher, bis sie irgendwann atemlos auf die Erde fielen. An manchen Tagen regnete es, bis die Bäume traurig ihre tropfnassen Äste hängen ließen. Pilze aller Art schossen aus dem feuchten Boden; Fliegenpilze mit weißen Spitzenkragen prahlten mit roten Kappen, verziert mit weißen Pünktchen und Maronen mit braunen Samthüten versteckten sich im vertrockneten Gras oder tarnten sich mit Kiefernnadeln. Manchmal wurde es Mittag, ehe sich der Nebel auflöste, der dick und schwer zwischen den Bäumen hing und dann herrschte eine Stille in der Natur ringsum, dass man fast denken konnte, alle Tiere hätten sich einen freundlicheren Lebensraum gesucht. Doch dieser Eindruck täuschte gewaltig! Wer aufmerksam hinschaute, konnte viele Lebenszeichen der Waldbewohner entdecken: Federn beispielsweise, die vom üppigen Mal eines Raubvogels übrig geblieben waren und Spuren von Pfoten, Hufen oder Krallen. Von irgendwoher tönte das rhythmische Klopfen eines Spechtes, der unter der Rinde nach Baumschädlingen suchte und oben in den Zweigen einer großen, majestätischen Buche mit dickem silbergrauem Stamm, deren mächtige Krone weit über allen anderen Baumwipfeln in den blauen Himmel ragte, konnte man die beiden Eichhörnchen Elise und Willi bei ihrem Spiel beobachten.
 
 

 

Es war lustig anzusehen, wie flink die beiden Tiere an den Baumstämmen hinauf und hinunter flitzten und wie elegant sie von Ast zu Ast sprangen. Sie spielten Hasche und Verstecken, aber trotz allem Vergnügen vergaßen sie nicht, sich Vorräte für den Winter anzulegen, schließlich gab es im Wald keinen Supermarkt in den die Waldbewohner einfach hinein spazieren konnten, um sich mit Leckereien einzudecken. Gerade jetzt, in dem Monat, den die Menschen Oktober nennen, war der Tisch für die Geschwister Elise und Willi reich mit allen erdenklichen Leckerbissen gedeckt. Es war ein gutes Jahr: Bucheckern, Samen und Nüsse gab es im Überfluss und die Beiden bedienten sich reichlich. Sie waren Kinder dieses Jahres und noch kannten Elise und Willi den Winter nur aus Erzählungen ihrer Eltern und vielen Verwandten. Sie wussten nur, dass eine lange dunkle Zeit vor ihnen lag, in der sie nichts mehr zu fressen finden würden. Weil sie jedoch noch nicht wussten, was es bedeutete, wenn Frost, Eis, Schnee und stürmischer eisiger Wind den Wald heimsuchen, sammelten sie verspielt und unbekümmert, was die Natur ihnen schenkte. Alles, was sie fanden versteckten sie zwischen Baumwurzeln, in Astgabeln und Hohlräumen, die sich oftmals unter der Rinde bildeten. Mitunter gruben Elise und Willi auch einfach nur kleine Löcher in den Waldboden und versteckten darin ihre Schätze. Die Geschwister waren zufrieden, weil sie schon viele Vorratslager angelegt hatten. Außerdem hatten sich Wind und Regen, die es in letzer Zeit im Übermaß gegeben hatte, verzogen, der Nebel hatte sich im Laufe des späten Morgens gelichtet und die blasse Herbstsonne erhellte nun den trüben Tag mehr schlecht als recht. Das musste ausgenutzt werden und so legten die beiden immer wieder Pausen ein, um ausgelassen miteinander herumzutoben.
Mitten in ihrem Spiel hielten Elise und Willi erschrocken inne, denn es wurde plötzlich unruhig, Geräusche tönten durch die Stille, die sie nicht kannten und mit erstaunt aufgerissenen Augen sahen sie zu, was nun in ihrem Wald vor sich ging.
 
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Fröhlich vor sich hin pfeifend saß der Waldarbeiter Andreas am Lenkrad seines roten Traktors, der hinter sich her einen kleinen Bauwagen zog. Die tuckernden Motorgeräusche des Traktors übertönten das Pfeifen des Mannes, von dem seine Frau behauptete, dass es so unmelodisch wie das Schrillen eines Teekessels klang. Ihm folgten die Autos seiner Kollegen, die mit ihm gekommen waren, um Holz zu ernten. Endlich hatte Andreas eine Lichtung im Wald erreicht, die groß genug war, um Traktor und Bauwagen nebeneinander Platz zu bieten. Seine Kollegen stellten ihre Fahrzeuge am Wegesrand ab und nun begann geschäftiges Treiben. Der Bauwagen, der als Aufenthaltsraum für die Waldarbeiter in den Pausen dienen sollte, wurde abgekoppelt. Danach begannen die Männer Reisig aufzulesen und bald flackerte im Ofen des Bauwagens ein munteres Feuer, dessen dichter grauer Rauch aus einem dünnen Rohr quoll, das aus dem Dach ragte.
Während seine Kollegen Feuer machten, kennzeichnete Andreas die Bäume, die gefällt werden sollten mit einem dicken weißen Kreidekreuz. Andreas liebte seinen Beruf, der richtig Forstwirt heißt und den er mit viel Freude ausübte, denn er wusste, dass seine Arbeit für Wald und Mensch gleichermaßen nützlich war. Auch, wenn Holz inzwischen durch andere Materialien ersetzt wurde, spielte es im Leben der Menschen noch immer eine große Rolle. Sein Junge baute aus Holzbausteinen die höchsten Türme und phantasievollsten Schlösser, Stühle, Tische und Schränke in Wohnungen und Büros waren aus Holz, ebenso Sportgeräte in Turnhallen der Schulen und Kindergärten und auch die Lattenkonstruktionen, die man Dachstuhl nennt wurden nach wie vor aus Holz gefertigt. Damit Tischler, Bauleute und Zimmerer immer genügend Holz zur Verfügung hatten aber auch der Wald nicht nur lehrgeholzt wurde, wie dies in früheren Zeiten oft geschehen war, gab es Menschen wie Andreas, die nicht nur Holz ernteten und Schonungen auslichteten. Forstwirte forsteten den Wald nicht nur wieder auf indem sie junge Eichen, Buchen, Fichten, Kiefern pflanzten, sie legten auch Wege an, schützen den Wald vor Schädlingen, wie beispielsweise Borkenkäferlarven, die den Bäumen zu schaffen machen und sie rodeten Unterholz, um Waldbrände zu verhindern.
Andreas mochte den Wald, tief atmete er durch, um die saubere frische Luft in seine Lungen zu ziehen und verstohlen beobachtete er, was sich um ihn her regte. Dort oben, auf der mächtigen Buche lugten zwei Eichhörnchen hinter einem dicken Ast hervor und sahen ihn mit großen erschrockenen Augen an. Andreas wusste natürlich, wie viel Leben so ein Baum beherbergt. Vögel bauten ihre Nester in Astgabeln, die wie geschaffen waren, um den Behausungen der gefiederten Waldbewohner Halt und Schutz zu gewähren. An seinen Wurzeln fraßen sich fette Maikäferlarven rund und satt, Spechte hackten im Stamm nach Ungeziefer und schufen dadurch Wohnraum für viele Geschöpfe. Hornissen bauten manchmal ihre Nester hinein, Eulen nisteten in den dadurch geschaffenen Räumen oder Eichhörnchen übernahmen so eine, dann Kobel genannte Wohnhöhle für die Aufzucht ihrer Jungen. Das Leben im Wald war vielfältig und Andreas kannte sich gut aus darin. Doch seine eigentliche Aufgabe war die Hege und Pflege des Waldes, damit dieser den Menschen nutzte und den Tieren als Lebensraum erhalten blieb. Nachdenklich sah Andreas zu der riesigen Buche hinüber. Sie hatte bereits viele Jahre auf dem Buckel und auch sie würde dieses Jahr geschlagen werden müssen, denn jetzt war ihr Holz noch gut und hart und für vielerlei nützliche Dinge zu verwenden. Ließe er sie noch ein paar Jahre stehen, dann würde sie morsch und hohl und zumindest für menschliche Nutzung wertlos werden.
Andreas hatte schon viele Bäume gekennzeichnet, als er hörte, wie seine Kollegen einer nach dem anderen die Kettensägen in Gang setzten und deren Kreischen die Stille zerschnitt. Kein anderer Ton war mehr zu hören. Nur hastige Flucht nahm Andreas um sich herum wahr und er wusste, dass sich die Tiere jetzt in andere, ruhigere Zonen des Waldes zurückzogen.

Zwei Wochen waren Andreas und seine Kollegen mit Roden und Auslichten beschäftigt, dann verschwanden die Autos und der Traktor mit dem Bauwagen wieder.

* * *

Elise und Willi hatten die schrecklichen Tage nicht gezählt, in denen die Männer Unruhe brachten, ihre verlängerten Arme stinkend und qualmend fürchterlichen Lärm verbreiteten und Bäume krachend auf den Waldboden fielen. Mit Entsetzen hatten sie zusehen müssen, wie auch ihre Buche umgesunken war. Wie hatte sich der Wald verändert, als dieses rote, vierrädrige Monstrum die entwurzelten und von ihren Ästen befreiten Stämme auf den Weg gezerrt hatte und die Waldarbeiter schließlich irgendwann wieder verschwunden waren. Tiefe Furchen durchzogen den Boden, überall verstreut lagen Rindenstücke und Äste umher und die beiden Rotpelze erkannten ihre Heimat kaum wieder. Doch schließlich fanden sie sich mit den Veränderungen ab, sosehr ihnen diese auch missfallen mochten. Elise und Willi blieb nichts anderes übrig als sich schweren Herzens einen anderen Lieblingsbaum für ihre Aktivitäten zu suchen. Immerhin fanden sie an dessen Stamm eine bezugsfertige Behausung. Es war eine bequeme Höhle, die nicht von einem Specht stammte. Elise und Willi machten sich jedoch keine Gedanken, wer wohl diesen eigenartigen Kasten hier angebracht hatte. Kurzerhand warfen sie das Nest hinaus, welches ihre Vormieter im Frühjahr gebaut, inzwischen aber verlassen hatten und machten es sich ihrerseits behaglich. Die Zeit verrann und ein heimlicher Beobachter hätte glauben können, dass Elise und Willi die alte Buche, auf der sie fast ihre gesamte Kindheit verbracht hatten bald vergaßen. Doch dies schien nur so, weil ihr Kummer von den nun folgenden Sorgen verdrängt wurde, denn in Wald und Flur begannen nun für Eichhörnchen und ihre Freunde die hungrigen Tage.
Zuerst kam es Elise und Willi so vor, als wollte der graue Monat ewig währen. Lange Zeit herrschte dunstiges, regnerisches Wetter, der Himmel hing tief und trübsinnig über dem Wald und kein Sonnenstrahl vermochte die dichte Wolkendecke zu durchdringen. Doch dann, als das neue Jahr bereits einen Mond alt war, als die Knospen schon zu schwellen und die Vogelherren um die Gunst ihrer Damen zu werben begannen, da packten Schnee und Frost richtig zu. Elise und Willi wussten nun, wozu der dichte warme Winterpelz gut war, der ihnen im Herbst gewachsen war und in dem sie in letzter Zeit ins Schwitzen gekommen waren. Jetzt schützte dieser sie vor eiskaltem Wind und Temperaturen, die den Bach bis auf den Grund gefrieren ließen. Außerdem schneite es ein wenig, gerade so viel, dass Wurzel und Stamm, Ast und Zweig, Wiese und Weg eichhörnchenfußhoch mit einem weißen, weichen Flockenteppich bedeckt waren.
Als der Winter sich nach dieser Eskapade endlich aus dem Wald zurück zog und der Frühling die Maiglöckchen geweckt hatte, staunten Willi und Elise sehr, denn überall dort, wo die beiden leichtfertigen Gesellen ihre Vorratslager vergessen hatten, sprossen junge Triebe aus dem Boden. Auch an der Stelle, wo einst ihre geliebte Buche stand, reckten sich dünne Schößlinge dem Licht entgegen. Natürlich würden nicht alle von ihnen groß und alt werden, doch einer würde es mit Sicherheit schaffen. Nach sehr vielen Jahren, länger als ein Menschenleben dauert, würde an der Stelle wieder ein Baum mit mächtigem Stamm und weit verzweigter Krone stehen. Dann würden vielleicht auch wieder zwei Eichhörnchen in dessen Zweigen Hasche spielen und wiederum Menschen kommen, um den Baum zu fällen. Solange die Sonne scheint und die Erde sich dreht, wird dieser Kreislauf immer wieder von Neuem beginnen, denn alles hat seine Zeit.
 
 

 

                                                                                        

 

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