DAS MÄRCHEN VON DER VERSÖHNUNG

 

Haben wir nicht schon alle Geschichten gelesen, die zum Heulen schön waren und von denen wir daher genau wussten, dass diese Episoden so, wie sie beschrieben worden waren nie geschehen sein konnten? Märchen - alte wie moderne - erfreuen unser Herz und mir zumindest geht es so, dass ich mir nach dem Lesen wünschte, dass das Leben genau dies wäre: ein Zuhause, ein wunderbarer harmonischer Ort für jeden von uns. Dann legt man das Buch beiseite, ernüchtert in der Realität angekommen und sagt sich: „Ich kann sowieso nichts tun, um die Welt zu verändern“ und geht zur Tagesordnung über. Dabei vergessen wir, dass wir die Welt gar nicht ändern müssen, jedenfalls nicht mit einem großen Knall und sofort. Um die Welt in klitzekleinen Schritten zu verbessern, müssen nur wir uns ändern und das ist das Schwierigste überhaupt.

Da dies ein modernes Märchen ist, spielt es überall und nirgends und doch an einem ganz bestimmten Ort. Es geschah vor langer Zeit, es geschieht in diesem Augenblick und es wird in ferner Zukunft geschehen, alles ist möglich, was Menschen möglich machen wollen. Und was möglich war, ist und sein wird entscheidet jeder von uns in jedem Augenblick neu.

Es war einmal eine böse Fee. Da dies ein modernes Märchen ist, konnte man es nicht gleich erkennen. Sie war Chefin in einer großen Küche, in der Essen für viele Schüler und ein paar Lehrer zubereitet wurde. Sie trug einen fleckenlosen weißen Kittel und ihr langes Haar glänzte blauschwarz im Licht. Sie war auch nicht gerade hässlich und wie alle bösen Feen war sie anfangs furchtbar freundlich, bis man dahinter kam, dass ihr Lächeln nur Fassade war und einen abgrundtiefen Abscheu gegen alles Schöne verbarg. Sie schaffte es immer, etwas Großartiges in eine Gehässigkeit zu verwandeln. Hörte sie beispielsweise ein Kompliment, sagte sie abfällig: „Die will sich nur einkratzen.“, weil sie nicht glauben konnte, dass jemand es ehrlich mit ihr meinte. Die böse Fee war einer der Menschen, die alles, was über ihren geistigen Horizont geht, dumm finden und die deshalb immer einen Grund entdeckte, über Dinge höhnen zu können, die anderen Menschen wichtig waren. Egal, was Leute sagten oder taten, die böse Fee unterstellte allen, eine Gemeinheit gegen sie auszuhecken. Sie hatte daher immer recht, sie war nie verantwortlich, wenn etwas Schlimmes geschah und Menschen, die sich in ihrer Nähe aufhielten wurden zänkisch, schwermütig oder heimtückisch, je nach Wesensart.

Diese böse Fee, nennen wir sie Esmeralda, hielt sich Sklavinnen. Da dies ein modernes Märchen ist, war auch das nicht auf den ersten Blick zu erkennen, denn ihre Sklavinnen bekamen am Monatsende sogar Lohn, eine kleine finanzielle Aufmerksamkeit, damit sie nicht verhungern und den Kitt aus den Fenstern kratzen mussten. Ständig verdächtigte sie ihre Sklavinnen, sie zu bestehlen, faul oder nicht sauber genug zu sein und ihr Mann, der unausstehliche Zauberer Guido war noch viel schlimmer, denn er hatte nicht für einen Pfennig Humor und verbot den Sklavinnen bei der Arbeit zu lachen. So geschah es, dass in seiner Nähe hokuspokusfidibus, hastdunichtgeshen im Handumdrehen Fröhlichkeit, Leichtigkeit und Eintracht aus dem Leben der Menschen verschwanden.

Aber halt, noch war das Licht der Kameradschaft zwischen den Sklavinnen nicht ganz erloschen. Noch hatten die böse Fee Esmeralda und der unausstehliche Zauberer Guido es nicht vermocht alle Hilfsbereitschaft, alle Heiterkeit und allen Frohsinn zu unterdrücken. Da dies ein modernes Märchen ist, trugen die Sklavinnen unsichtbare Masken: die Maske der Gleichgültigkeit, die Maske der Ehrfurcht und die Maske der Willfährigkeit. Hinter diesen Masken verborgen blühten noch immer Verständnis für einander und Gemeinschaftssinn.

Nun geschah es eines Tages, dass Sklavin Marion in trübsinniger Stimmung auf Arbeit kam. Sklavin Isolde fiel auf, dass Sklavin Marion ungewöhnlich still war, ihre Arbeit unlustig verrichtete und sogar versuchte, ihre Fehler anderen Sklavinnen unterzuschieben, um von der bösen Fee Esmeralda nicht beschimpft zu werden, denn das konnte diese am allerbesten. Wenn eine Arbeit nicht nach ihren Vorstellungen ausgeführt worden war, spie ihr Mund gemeine Verwünschungen aus, in einer Lautstärke, dass die Fliesen von der Wand fielen und sich jedefrau in ihrer Nähe wünschte, nicht geboren worden zu sein. Sklavin Marion hatte den ganzen Vormittag nicht ein einziges Mal gelächelt und Sklavin Isolde versuchte sie daher aufzuheitern, um die Arbeit etwas erträglicher zu machen. Sklavin Isolde alberte herum und neckte Sklavin Marion auch ein wenig wegen ihrer schlechten Laune oder versuchte sie mit derben Späßen zum Lachen zu bringen.

Als es nun Mittag geworden war befahl die böse Fee Esmeralda den beiden Sklavinnen, das fertig gekochte Essen in die Ausgabe zu bringen, damit es an die Schüler verteilt werden konnte. Nachdem sie wieder einen ihrer Scherze zum Besten gegeben hatte, bemerkte Sklavin Isolde plötzlich, dass Sklavin Marion weinte. Erschrocken fragte sie diese, was passiert war und zornig schrie Sklavin Marion zurück, ob Sklavin Isolde sie nicht mehr leiden könne und vielleicht mit der bösen Fee Esmeralda gemeinsame Sache machte, weil sie sie schon den ganzen Vormittag gehänselt habe. Sklavin Isolde schwieg betroffen und fühlte sich auch etwas hilflos, weil sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Sklavin Isolde war nämlich sehr sensibel und hatte schon oft erlebt, dass Menschen; besonders natürlich die böse Fee Esmeralda und der unausstehliche Zauberer Guido sie mit hämischen Äußerungen verletzt hatten. Meist hatte sie zu ihrem Kummer, gekränkt worden zu sein, auch noch Spott oder gar Vorwürfe anhören müssen. Diese Behauptungen klangen ihr nun im Ohr: „Du bist übersensibel“, „Du tickst ja nicht richtig“ oder „Du nimmst alles viel zu ernst“; all diese Sätze, die ihr immer wie Faustschläge in den Magen gerammt worden waren und die ihr nun auf der Zunge lagen, um sie Slavin Marion ebenfalls um die Ohren zu hauen.

Jedoch hielt Sklavin Isolde noch einen Moment inne und tat schließlich genau das, was sie sich in solchen Momenten immer am sehnlichsten gewünscht hatte: sie umarmte Sklavin Marion, entschuldigte sich bei ihr, weil sie ja nicht beabsichtigt hatte sie zu verletzen, sondern sie im Gegenteil aufmuntern wollte und als das Missverständnis aus dem Weg geräumt war, lachten die beiden jungen Frauen erleichtert. Die Arbeit ging ihnen nun beschwingt von der Hand, die Schüler wunderten sich, dass die Küchenfrauen so gut gelaunt waren und die Lehrer, weil sie an diesem Tage unaufgefordert eine reichlichere Portion bekamen. Seit diesem Tage waren Sklavin Isolde und Sklavin Marion die besten Freundinnen und die böse Fee Esmeralda und der unausstehliche Zauberer Guido schafften es trotz all ihrer Versuche nicht, diese Freundschaft zu zerstören. Und wenn sie nicht gestorben sind …